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Rede - Voßstraße 42
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Friederike
Oppenheimer, geb. Cohen |
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Henriette Oppenheimer |
Betty
Seligmann geb. Oppenheimer |
Ludwig
Willner |
Else
Willner geb. Oppenheimer |
Joseph
Seligmann |
Leah
Willner |
Eva
Willner |
Hier
an der Adresse Voßstraße 42 wohnte Friederike Oppenheimer mit ihren
Töchtern Else, Betty und Hennie. Außerdem lebten hier noch Elses
Ehemann Ludwig und die beiden Töchter Leah und Eva. Auch Bettys Sohn
Joseph wohnte hier zeitweise.
Wir verlesen im Folgenden einen erfundenen Brief von Leah Cohen,
geb. Willner, an ihre Schwester Eva im Jahr 2005.
Liebe
Eva, ich habe im Internet nach unserem Großvater Aron Oppenheimer aus Goch geforscht. Tatsächlich habe ich ein Bild von ihm gefunden. Ich war sehr erstaunt, dass es in Goch nun eine Schulwebseite gibt, auf der das Schicksal unserer Familie dargestellt wird. Es hat mich gefreut, dass man sich nun endlich an die jüdischen Familien in Goch erinnert. Ich werde Kontakt zu der Lehrerin aufnehmen und ihr weitere Informationen über unsere Lebensgeschichte zuzuschicken. Auf diese Weise können wir dafür sorgen, dass die Geschichte unserer Familie in Goch nicht in Vergessenheit gerät. Ich habe nun einige Informationen zusammengefasst und möchte sie dir zuschicken. Vielleicht kannst du sie um einige Erinnerungen ergänzen. Du warst erst zwei Jahre alt, als wir Goch verließen. Wahrscheinlich kannst du dich nicht wirklich daran erinnern. Ich selbst war vier Jahre alt. Ob meine Erinnerungen wirklich soweit zurückreichen oder ob sie durch die vielen Bilder und Erzählungen der Eltern wachgehalten wurden, kann ich nicht eindeutig sagen. Wir lebten damals über unserem Geschäft in der Voßstraße. In unserem Haus war immer viel los. Hier lebten drei Generationen der Familie Oppenheimer-Willner. Großmutter Friederike hatte das Kurzwarengeschäft aufgebaut. Sie hatte den jüdischen Lehrer Aron Oppenheimer geheiratet. Im Laufe der Zeit wurden acht Kinder geboren. Tante Henni, Tante Betty und unsere Mutter Else lebten und arbeiteten hier auch zur Zeit meiner Geburt. Natürlich wohnte auch unserer Vater Ludwig in der Wohnung über dem Geschäft. 1935 zog Tante Betty nach Leipzig, um in einem Altenheim für jüdische Frauen zu arbeiten. Da ihr Ehemann 1927 gestorben war, kam Joseph in ein Waisenheim nach Dinslaken. Beide kamen uns oft besuchen. Die Ferien verbrachte Joseph oft hier bei uns in Goch. Immer wieder erzählten Oma und unsere Eltern, wie es in Goch vor der Regierungsübernahme durch Hitler war. Sie berichteten, dass sie viele christliche Freunde gehabt haben, mit den Nachbarn gut bekannt waren und viele Kunden in ihr Kurzwarengeschäft kamen. Da ich erst 1934 geboren wurde, konnte ich mir diese Zeit natürlich nicht vorstellen. Wir hatten hauptsächlich Kontakt zu anderen jüdischen Familien. Papa und Mama waren mit den Familien Devries und Bruckmann befreundet. Sie hatte auch Geschäfte auf der Voßstraße. Max Devries hatte immer seine Kamera dabei. Die meisten unserer Kindheitsfotos wurden von ihm gemacht. Wenn wir beim Bäcker Fritz Bruckmann vorbeikamen, hat er uns häufig etwas Süßes zugesteckt. Nicht-jüdische Leute waren nicht so nett zu uns. Am meisten hatte ich Angst vor den SA-Männern und der Hitlerjugend. Immer wieder standen sie vor unserem Geschäft und trugen Schilder mit der Aufschrift "Kauft nicht bei Juden!". Die Hitlerjungen schrien uns Schimpfwörter hinterher. Das hat mir Angst gemacht. Als immer weniger Leute bei uns einkauften, sprach Papa davon, dass wir das Geschäft schließen müssten. Er wollte nach New York auswandern. Dort lebte Mamas Bruder Fritz und ein Onkel von Papa. Normalerweise war es gar nicht so einfach Deutschland zu verlassen und ein Einwanderungsland zu finden. Wir verkauften zwar unser Geschäft, aber man durfte nur wenig Geld mit ins Ausland nehmen. Wenn wir nicht Onkel Benjamin und Onkel Fritz gehabt hätten, wäre eine Einreise in die USA nicht möglich gewesen. Papas Onkel Benjamin bürgte für unsere Familien und garantierte, dass er für unseren Unterhalt aufkommen würde. Als Papa Anfang 1937 nach New York ging, konnte er bei Onkel Fritz wohnen. Er hatte beschlossen zunächst alleine nach New York zu fahren. Dort wollte er sich schnell eine Stelle suchen, um das Geld für unsere Überfahrt zu verdienen. Wir sollten ein halbes Jahr später folgen. Im August 1938 war noch einmal die ganze Familie in Goch vereint. Selbst Tante Betty aus Leipzig und Joseph waren da. Es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren. Alle wollten bzw. mussten Goch verlassen. Oma Friederike hatte beschlossen, in ein Altenheim in Leipzig zu ziehen. Dort arbeitete Tante Betty. Tante Hennie wollte nach Palästina auswandern. Unser Onkel Arthur und Tante Grete wohnten dort schon einige Zeit. Auch unser Cousin Joseph, der dreizehn Jahre alt war, sollte mit einem Kindertransport Deutschland verlassen. Tante Betty wollte, dass er in Belgien in Sicherheit lebte. Joseph sollte mit anderen Kindern eine Ausbildung zum Palästina-Pionier machen. Dazu musste man zwei Jahre lang in einem Ausbildungszentrum im Bereich Garten- und Landschaftsbau arbeiten und hebräisch lernen. Dann bekam man automatisch ein Einwanderungszertifikat für Palästina. Dort wurden diese Kenntnisse dringend benötigt. Alle waren traurig, dass sie voneinander Abschied nehmen mussten. Im September 1938 bestiegen wird das Schiff "New Amsterdam", mit dem wir nach New York fuhren. Obwohl der Abschied vor allem für unsere Mutter schwer war, freuten wir uns doch alle darauf unseren Vater wiederzusehen. Nach einigen Wochen erreichten wir New York. Es war alles ganz anders als in Goch. New York war riesig. Es war laut. Die Leute sprachen eine Sprache, die wir nicht verstanden. Es war alles so fremd. Aber man musste auch keine Angst mehr haben. In Goch mussten wir stets aufpassen, was wir sagten, und die Leute schauten uns nur selten freundlich an. Hier war es anders! Wir verstanden sie zwar nicht, aber die Menschen lächelten uns an. Trotzdem war der Anfang besonders für unsere Eltern nicht einfach. In Goch hatten wir in einem schönen großen Haus gewohnt. An den Möbeln und der Ausstattung merkte man, dass unsere Familie mal wohlhabend gewesen war. Nun hatten wir kaum noch Geld. Papa musste nun für sieben Dollar die Woche Aushilfsarbeiten in der Textilindustrie machen. Die schwere körperliche Arbeit war für ihn ungewohnt. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt als Kaufmann gearbeitet. Wir wohnten in einer Mietwohnung. Auch Mama musste nun mitarbeiten. Sie übernahm Heimarbeit und nähte Schürzen oder bestickte Embleme für Soldaten. Außerdem übernahm sie Arbeiten in unserem Miethaus. Sie kümmerte sich um den Kohleofen, der das ganze Haus heizen musste, kehrte die Asche zusammen und entsorgte sie im Müll. Durch die schwere körperliche Arbeit bekam sie später chronische Rückenschmerzen. Papa hatte in der Schule Englisch gelernt. Nach einiger Zeit konnte er sich gut verständigen. Für Mama war es schwerer. Sie brauchte sehr viel länger. Unsere Eltern sprachen zu Hause Deutsch. Wir beide sprachen nach kurzer Zeit nur noch Englisch. Nachdem die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren, wollten wir nicht mehr, dass Mama auf der Straße Deutsch sprach. Wir hatten einige Male erlebt, dass man uns auf offener Straße laut als Deutsche beschimpfte. Die Amerikaner verstanden nicht, dass wir zwar Deutsche waren, aber aus Deutschland fliehen mussten, weil wir Juden waren. Nun mussten wir auch hier auf offener Straße Anfeindungen ertragen. Diesmal aber, weil wir "Deutsche" waren. Das war verrückt! Nach einiger Zeit machte Papa sich selbstständig und besuchte als Reisender Schneider und Reinigungen in New York und Umgebung. Er belieferte sie mit diversem Zubehör. Mutter verbesserte im Laufe der Zeit auch ihre Englischkenntnisse. Wir konnten hier zur Schule gehen und etwas lernen. Das wäre in Deutschland nicht möglich gewesen. Dadurch konnten wir später studieren und eine gute Ausbildung machen. Nach dem Krieg bekamen wir endlich Nachrichten von den Verwandten aus Deutschland:
Liebe Eva, während ich diese Zeilen schreibe wird mir bewusst, wie viel Glück wir beide gehabt haben.
Wir beide gehören zu den zwanzig jüdischen Kindern und Jugendlichen, die in den 30er-Jahren in Goch wohnten. Neun von ihnen sind in Konzentrationslagern ermordet worden. Sieben wurden von ihren Eltern alleine ins Ausland geschickt. Diejenigen, die im Versteck überlebt haben, haben als kleine Kinder ständig in Angst gelebt. Diese Angst und diesen Schrecken haben sie auch nach dem Krieg mit in ihr späteres Leben genommen. Aber obwohl wir das Glück hatten, diesem Schicksal zu entgehen, frage ich mich manchmal, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn all dies nicht geschehen wäre.
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Stolpersteine in Goch |
Stolpersteine-Gruppe1 auf einer größeren Karte anzeigen |
Stolpersteinverlegung Friederike Oppenheimer Henriette Oppenheimer Betty Seligmann Joseph Seligmann Else Willner Ludwig Willner Leah Willner Eva Willner Voßstraße 42 |
kniend Susan Weiner-Gross, rechts Eva Weiner-Willner |
v.l.: Eva Weiner, Daniel
Cohen, Lisa Weiner-Gross |
Eva Weiner, Susan
Weiner-Gross Danial Cohen |
v.l.: Lisa Weiner-Gross,
Eva Weiner (geb. Willner), Susan Weiner-Gross, Daniel Cohen |
Lisa Weiner-Gross |
Familie Weiner-Willner,
Cohen im Gespräch mit Eva Weyl |
ganz links: Eva Weiner
Willner |
Stolpersteine Familie Willner |
Stolpersteinprojekt
des Künstlers Günther Demnig |
Der Künstler Gunter Demnig hat das Stolpersteinprojekt ins Leben gerufen. Er möchte an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, indem er vor ihren letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig einlässt. Stolpersteine wurden bereits in mehr als 500 Orten Deutschlands und in mehreren andern europäischen Ländern verlegt. |
Dateiname: |
gored270215Oppen.html |
Datum: |
02.03.15 |
Erstellt von : |
R. Warrener |
Text von: |
R. Warrener |
Fotografien: |
Bilder R. Warrener, G. Warrener Nicolette Ista, Annette Wozny-Koepp |